lebendige Augenblicke

lebendige Augenblicke
(gesammelte Texte aus dem nun gelöschten "Formlos"-Blog,
in dem ich eine zeitlang regelmäßig kurze Texte zu erlebten und beobachteten Augenblicken meines Lebens geschrieben habe.
Neue Texte aus dieser Rubrik werde ich
hier in der Manusskriptschublade veröffentlichen)


Die Geburt folgt auf den letzten Arbeitstag der gewissenhaften jungen Frau, die nun plötzlich Mutter ist. Auch dem Kind fehlt die Erfahrung einer Ruhepause vor dem nächsten Schritt. Diesen Mangel wird es lange Zeit für eine Tugend halten.


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Das kleine Mädchen hält, breitbeinig um Haltung und Gleichgewicht bemüht, die noch kleinere Schwester an der Hand. Sie wird sie schützen müssen vor der Kälte, die den Raum erfüllt, seit die Mutter ohne sich zurückkam. Das unsichtbare Bild ihres Vaters, leblos am Strick hängend, in sich gefroren. Sie wird sich wiederfinden. Doch dem Mädchen bleibt lange Zeit die Gewissheit der Überforderung in erdrückend leerem Raum.


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Das Zimmer misst zehn Schritte von der Tür zum Fenster. Ebenso viele vom Fenster zur Tür. Der Gedanke „Ich muss hier raus“ passt jeweils dreimal in diesen Weg. Mit dem ersten Gehalt öffnet sich die Tür zu einem Leben, das diesen Gedanken doch noch oft produzieren soll.


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Zu Tomatensalat servieren sie viel Brot. Essig, Olivenöl, Salz und Pfeffer stehen auf jedem Tisch. In griechisches Öl getunktes Brot sättigt nicht nur den Körper. Die Nächte verbringe ich am Strand. Morgens tausche ich den Schlafsack mit dem Handtuch, das das Salz der Nacht und des Meeres bereits seit Wochen sammelt. Eines Tages werde ich es waschen,  mich selbst in dieser Lauge aufgestauter Freiheit baden und den einst angehaltenen Tanz fortsetzen.


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Die Feierabendlethargie der im Zug Heimfahrenden wird jäh unterbrochen. Das Leben selbst steigt ein.  Der alte Mann mit den roten Bäckchen trägt Knickerbocker und Wanderstock begeistert wie ein kleiner Junge, der seine erste Bergtour hinter sich hat und es sich nun erschöpft aber glücklich am Jausentisch der Mutter bequem macht. Brotkauend zieht er Aufmerksamkeit und berichtet von 30 Kilometern. „Zu Fuß?“  fragt die junge Frau in den Hochhackigen neben ihm. „Klar“ murmelt er kauend und offensichtlich glücklich. Schweigend wendet sie sich ab und überlässt der Frau mit den Augenringen das Feld. Die ist überzeugt, dass das nicht normal sei und er sich Zeit und Gesundheit wohl gestohlen habe. Sie jedenfalls könne das nicht. Und das sei schließlich normal. Dem Lebendigen schmeckt das Brot und die immer noch sprudelnden Worte machen ihm nicht nur nichts aus, sie scheinen ihn gar zu interessieren. Jedenfalls betrachtet er die Augenberingte  geduldig und fasziniert. Kurz vor seiner Station, als sie kurz Luft holt und er schon einmal aufsteht, rät er fast liebevoll: „Warten sie nicht zu lange mit der Kehrtwende. Mir wäre es beinahe passiert.“


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Meine Schwester erzählt mir, während wir in unserem Kinderfotoalbum blättern, wie sie mich Freunden beschreibt, die mich noch nie erlebt haben.
„Die ist eine von denen, die am Strand sitzen, Armbänder knüpfen und an Urlauber verkaufen.“ Sie wirkt ein bisschen stolz, ich denke „schön wär’s“ und erinnere mich.



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Der Friseurladen wirkt edel. Eigentlich zu edel für mich. Kunst, oder das, was man dafür halten sollte, überall. Die Haare sind zu lang und wer weiß, wann ich wieder Zeit habe. Also gehe ich hinein. Der sehr gut aussehende, offensichtlich schwule Friseur mustert mich von oben bis unten. Lächelt, seufzt, deutet auf einen Stuhl, wirft mir den Umhang um die Schultern und sagt „ich schneide grundsätzlich trocken“. Die Frage „nur die Spitzen oder mehr?“ würde ich gerne beantworten, komme aber nicht zu Wort. Er beschließt „mehr“ und  schneidet auch schon. Als er fertig ist, betrachtet er, während er mit den Händen meine Haare lockert, sich und mich im Spiegel. Zufrieden sieht er nicht aus. Was mag er haben? Ist doch schön geworden, denke ich und erfahre schneller als mir lieb ist, wo der Hase im Pfeffer liegt. Was er beanstandet, nannte meine Mutter „Rasse“. Doch Oberlippenflaum und dicke Augenbrauen „gehen gar nicht“, verrät er und schenkt mir  neben diesem wiederholt missbilligenden Blick auf dem Umweg über den Spiegel die kopfschüttelnde Frage „wer steht denn auf so was?“  Ich könnte sie, selbst wenn ich zu Wort käme, nicht beantworten. Mir fehlen Gedanken darüber. Ihm offensichtlich nicht. Er findet noch viele Worte dafür.
Beim Hinausgehen, denke ich „ein bisschen schlanker stünde ihm vielleicht auch ganz gut“ und hoffe, dass diese Idee den Flaum und die Dicke meiner Brauen rechtfertigt.

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In der gut gefüllten Abflughalle in Bangalore bin ich offensichtlich die einzige Europäerin. Das sehen auch die Männer am Abfertigungsschalter. Sie verlassen ihren Arbeitsplatz, kommen zu mir, weinen und umarmen mich. Lady Di ist tot. Sie war so eine Gute, sagen sie. Trauern sie selbst? Oder glauben sie, mich, die ich bis eben vom Unfall nichts wusste, trösten zu müssen?


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Im Traum der nun vergangenen Nacht wusste ich mich träumend.  Ein Gedanke und die Welt um mich herum veränderte sich. Rasant. Nichts existierte wirklich. Probleme lösten sich in Nichts auf und auch Festes hielt der Beobachtung nicht stand. Ob das auch am Tag funktioniert?

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Der starke Wind nimmt dem Körper ein bisschen der Anstrengung, die ihm die Temperaturen verursachen und macht dem Sonnenschirm zu schaffen, der mir herrlichen Schatten spendet. Auf dem Weg von hier nach dort, in der Pause zwischen zwei Aktivitäten, die zu meinem Alltag gehören, erlaube ich mir ein Päuschen. Der Espresso schmeckt und die Aussicht gefällt mir auch heute wieder. Nur die Uferpromenade trennt mich vom vollen Strand mit seinen Handtüchern, Liegen, Luftmatratzen, Sonnenpilzen, weißen, braunen, verbrannten Körpern und dem Meer. Wenn ich den Hals recke, gelingt es mir, nur den Horizont zu sehen, diese Linie, die keine ist und jeden Fernwehtraum scheinbar leicht in Wirklichkeit verwandeln könnte.
Noch bevor ich mich in fernen Beobachtungen, Träumen und Überlegungen verlieren könnte, beginnt ein lautes nahes Schauspiel. Eine Horde Deutscher fällt ein. Sie rücken gut geschützte Tische aus dem Schatten der Schirme und zueinander, klauben alle freien Stühle zusammen und einigen sich mit Schwierigkeiten auf eine Sitzordnung. Es sind die Verlierer, die nun in Richtung Eiscafé schauen.
Die genaue Betrachtung der Nachbartisch-Körper halte ich kurz. Sie sind nur mit Badehosen, Bikinis, Badeanzügen, Kappen und Schlappen bekleidet und allesamt kein Augenschmaus. Francesco, der Sommerkummer gewöhnt ist, begrüßt die neuen Gäste mit einem flotten spanischen Spruch und ein bisschen „gebrochenem“ Deutsch, das nicht nötig wäre, da er lange in Deutschland gelebt hat und perfekt spricht.
Das dann Bestellte bringt er so schnell er kann, doch mehr als drei Portionen kann er nicht tragen. Das wiederum trägt nicht zur Verbesserung der offensichtlich eh schon nicht besonders guten Stimmung der Gruppe bei. Denn das Eis muss vor dem Verzehr fotografiert werden. Und zwar nicht einzeln, sondern alle Portionen auf einmal. „Ist ja einmalig, was man hier geboten bekommt. So schön bekäme man das bei uns nicht!“ Ich denke, außer vielleicht bei Francesco in seiner Zeit mit seinem italienischen Eiscafé in einer deutschen Stadt oder bei einem der vielen anderen Italiener, die ja europaweit verstreut sind. Sage aber nichts, sondern konzentriere mich jetzt auf das nörgelnde Kind, das wie ich dem schmelzenden Eis zusieht, aber nicht einmal nippen darf. Als das Foto endlich geschossen ist, sehen längst nicht mehr alle Eisgerichte schön aus, aber Urlaub ist Urlaub und der muss ja dokumentiert werden.
Während die Herrschaften nun ihr Eis löffeln, bestellen sie schon mal ein paar Bier dazu. Neben den Worten „Ist ja schließlich Urlaub“ und „Man gönnt sich ja sonst nix“, sondern sie ein Vorurteil nach dem anderen über das Land, in dem sie sich befinden, seine Bewohner und Vorübergehende ab. Zufrieden sind sie eigentlich mit kaum etwas und auf die Idee, dass sie jemand verstehen könnte, kommen sie seltsamerweise auch nicht. Es sind Menschen, die zu Hause vermutlich peinlich genau auf ihre Kleidung achten würden und sich die Lästereien im Café nur hinter vorgehaltener Hand oder gleich nur hinter verschlossenen Türen erlauben würden. Eigentlich erstaunlich, denke ich, obwohl es mich ja schon lange nicht mehr erstaunt. Man gewöhnt sich an so vieles.
Ob sie das Eis, dass sie per MMS an Verwandte geschickt haben, genossen haben? Ob sie ganz heimlich doch irgendetwas oder vielleicht sogar alles, was sie hier erleben können, mögen? Das Kind jedenfalls nörgelt jetzt nicht mehr. Er hat noch einen weiteren Eisbecher bekommen und spachtelt andächtig. Seine Mutter schaut versonnen übers Meer und eine andere Frau der Gruppe läuft eben rüber zum Strand und streift sich ihr Kleid über. Das geht ja auch. Vielleicht haben sich die Gespräche ja auch später noch verändert. Wenn sie aufbrechen werden, bin ich schon längst nicht mehr da. Francesco wird die durchgeschwitzten Stuhlkissen umdrehen, die Tische an ihren Platz zurück schieben, den mitgebrachten Sand zusammenfegen und am Abend nach 16 Stunden Arbeit erfreut seine Kasse zählen.


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Der Handgepäckkontrolleur eines deutschen Flughafens entdeckt mithilfe aufwändigster Untersuchungen drei Feuerzeuge in meiner großen und insgesamt ziemlich chaotisch gepackten Tasche. Anscheinend ist nur eins erlaubt. Als er sie konfiszieren möchte, frage ich ob ich sie Mitreisenden schenken darf. Nach kurzer Überlegung, die von langsamem Kopfschütteln begleitet wird, bejaht er und ich gebe sie den Menschen, die hinter mir in der Schlange stehen. Außer Sichtweite geben mir beide Beschenkte, unabhängig voneinander, die Feuerzeuge wieder. Auch sie haben keine Idee, wie ich damit nun auf dem Flug Schaden anrichten könnte. Ein Hoch auf die Regeln. Auf alle.


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Im Mathematikleistungskurs soll ich Kurven diskutieren. Nicht nur im Heft sondern auch an der Tafel. Als ich einen Fehler mache, lehnt sich der Lehrer, mit dem Hintern fast auf seinem Pult sitzend, weit zurück, als wolle er Anlauf nehmen, nicht nur mit Worten, sondern ganz und gar. Ich soll Kurven diskutieren. „Das werden sie ja wohl besser können. Wenn ich mir ihre Kurven so anschaue.“ Er liebt es, die Verbesserungen an der Tafel, ganz körperlich, über die Schultern der jungen Frauen, die seine Schülerinnen sind, hinweg zu machen. Wir kennen das. Er ist schon lange unser Lehrer. Und doch.

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Wenn wir Familienurlaub machen, dann fahren wir dorthin, wo Natur ist. Und dann wandern wir. Der Vater zügigen Schrittes vorneweg. Die Mutter langsam vor der Schwester, die das Rücklicht bildet. Sie ist darauf bedacht, die Jüngste nicht zu verlieren. Man sagt, die trödelt immer so. Doch ist es die Genauigkeit der Beobachtung, die sie versinken lässt. Sie vergisst die Gesellschaft, in der sie loszog, bis man sie erinnert. Ich laufe irgendwo dazwischen. Im Bemühen niemanden der Familie zu verlieren entgeht mir manch schöner  Augenblick.

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Wirr, unkontrolliert und zusammenhanglos schnappe ich sowohl Wortfetzen Vorübergehender als auch Gedanken aus der Luft, die als frisch bezeichnet wird und wegen der ich mich nun am Flüsschen befinde und das tue, was ich Spazieren gehen nenne. Die Menschen mit der Outdoorsportkleidung nennen es wohl Walking und die mit der Freizeitkleidung und den zwei Stöcken vermutlich Nordic Walking. Was uns eint, ist der Ort, an dem wir uns befinden und die Luft, die wir atmen.
Ich werfe einen Ast in den kleinen Fluss und gehe eine Weile, ihn beobachtend, neben ihm her. Dann wird er schneller oder ich langsamer.
Eine Radfahrerin sagt zu ihrem Kind auf dem Gepäckträger: „wackel‘ nicht so“ und das Kind wirkt erschrocken. Ob es ahnt, dass es ebenfalls auf dem Boden landet, wenn die Mutter das Rad nicht mehr senkrecht halten kann und umfällt?
Eine Frau sagt zu ihrem Mann, der vorsichtig um eine Pfütze auf dem ohnehin vermatschten Weg zu tänzeln versucht: „Geh‘ ruhig weiter. Schuhe kann man putzen.“ Und ich suche meinen Ast, den ich in der Ferne nur noch erahnen kann. Wird er wohl eines Tages im Meer landen? Oder wird er einfach irgendwo am Ufer hängen bleiben? In diesem Fluss oder in einem der folgenden, der aus dem gleichen Wasser gemacht sein wird, aber einen anderen Namen trägt?
Als ich mitten in eine Pfütze stapfe, denke ich an die eben gehörten Worte über die Möglichkeit des Putzens von Schuhen und freue mich an der dieses Putzen ersetzenden Idee, mit den nun schmutzigen Schuhen durchs feuchte Gras zu schluffen. Genial. Wo kommt so eine Idee her? Wissen? Erfahrung? Mir ist, als kam sie aus dem Nichts und ich ermittle, indem ich durchs Gras schluffe, dass die Idee nur mittelmäßig war.
Vogelzwitschern mischt sich mit Autogeräuschen der nur noch wenig entfernten Straße und ich beobachte einen Vater, der mit seiner kleinen Tochter die Enten füttern will. Unter den neugierig offenen Blicken des Kindes wirft er ein Stück Brot hinter einer Ente her, die sofort Reißaus nimmt. Mag sein, dass die Ente erschrak. Mag sein, dass sie satt war. Das Kind weint. Der Vater sagt: „Guck‘, was für ein schönes Tier.“ Ob das Brot wohl meinen Ast auf dem Weg zum Meer treffen wird?
Als ich beschließe, nicht umzukehren, sondern den Rundweg über die Brücke zu nutzen, überlege ich, ob nicht auch ein Hin-und-Rückweg auf gleicher Strecke letztlich ein Rundweg wäre und freue mich den Rest des Weges am Geräusch meiner Schuhe auf dem aufgeweichten Boden.
Mit all den anderen Sonntagsspaziergängern habe ich wieder einmal den Lauf der Welt verändert. Schließlich hätten wir alle zu Hause bleiben können? Die Pfützen wären unbehelligt von unseren Schuhen geblieben, die Ente hätte ihre Ruhe behalten und mein Ästchen läge noch am Ufer. Oder doch nicht?

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Mein Kopf schmerzt und die Augen transportieren unaufhörlich Bilder und lässliche Informationen ins Innere. „Sale“. „Bis zu 70%“. „Totalausverkauf“. „20% auf alles Reduzierte“. Dicke Menschen und Dünne, Schöne und weniger Schöne, Junge und Alte, Gepflegte und weniger Gepflegte, Obdachlose und solche mit vermutetem Obdach. Es scheint, als dringen bei diesem Tempo die Urteile gleich mit dem Gesehenen ein. Auch Nase und Ohren tun ihren selbstverständlichen Dienst, der zu meiner Überforderung beiträgt. Bratwurstgeruch vermischt mit verbrannter Pizza und dem unfreundlichen Ruf nach dem Kauf einer Zeitung oder wenigstens einer Spende. Verdenken kann ich dem Zeitungsverkäufer seine spürbare Gereiztheit nicht. Scheint doch hier jeder sich selbst der Nächste und taumelnd auf der Jagd nach Irgendetwas zu sein. Die meisten laufen schnell. Hierhin und dorthin. Mit Tüten und ohne.
„Ich brauch jetzt noch UNBEDINGT einen grünen Schal“ höre ich im langsamen Vorbeigehen. „Du hast doch den schönen Grünen zu Hause.“ „Der geht doch nicht zu DEM Mantel!“ Der Mann, der sich an den zu Hause liegenden Schal erinnerte, seufzt und die Frau schaut ihn abfällig an. Wie lange werden sie sich noch durch die Geschäfte quälen? Und warum eigentlich wirklich?
Ich sehne mich nach Ruhe. Für meine Augen, meine Ohren, meine Nase und mich.
Ich habe nach einem Mantel geguckt. Einem Hellen, einem Schönen und einem der warm hält, falls es kälter wird. Doch heutzutage sehen die alle gleich aus. Einen wirklich Schönen konnte ich nicht entdecken.
Ich beschließe, weiterhin das zu mögen, was ich bereits besitze und gehe zum Rhein herunter. Das Wasser beruhigt mich ein wenig. Die Schiffe liegen einfach so da und die Touristen mögen die Atmosphäre und das, was sie sehen wohl auch. Ich höre ruhige, freundliche Worte in fremden Sprachen, beobachte das fließende Wasser und gehe ganz langsam stromaufwärts. Die Sonne scheint fast herbstlich und meine Füße tragen mich automatisch immer weiter. Hier ist es schön, weiß ich, ohne es denken zu müssen.
Im Zug nach Hause beruhigt sich mein Kopf und auch meine Seele. Ich schaue aus dem Fenster und die vorbeifliegenden Bäume und Sträucher entlasten meine Augen. Nach und nach fallen die überflüssigen Eindrücke von mir ab und ich fühle mich mit jedem Kilometer besser.
Als ich aussteige, spiegele ich mich kurz im Fenster des wartenden Zuges, bemerke meine schöne warme rote Jacke,  frage mich, was ich in dieser Fußgängerzone eigentlich gesucht habe und amüsiere mich. Über mich selbst. Was soll ich also sagen? Es ist ein erfolgreicher Tag.

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Ich hab den Tag gegen die Nacht getauscht. Oder umgekehrt. Wir sind nur Frauen im Büro. Der Dienst beginnt, wenn die Kinder im Bett sind und die Männer mit dem Bier vorm Fernseher liegen. Sie bekommen das alles gut geregelt. Wenn sie Pausenbrote schmieren und zur Eile wegen der Schulbusse mahnen, werden sie sogar ein paar Stündchen geschlafen haben. Der Job ist ideal, sagen sie. Alle.
Wir sortieren Anlagen hinter Kontoauszüge. Manuell. Immer vier Frauen an einem Tisch. Im täglichen Wechsel.  Ich liebe die Gespräche, denen ich fast andächtig zuhöre.  Sie reden vom Alltag. Von den Kindern, den Männern, von Krankheiten und Träumen. Wenn die Kinder groß sind, wenn der Mann nicht mehr arbeitslos ist, wenn die Mutter nicht mehr gepflegt werden muss, wenn der Kredit abbezahlt ist, wenn die Zeit mal günstig ist. Dann, ja, dann soll‘s losgehen. Dann werden sie sich erfüllen, was jetzt nicht geht. In diesen Nächten mit automatisch sortierenden Händen malen sie sich aus, was sie tun werden, wenn es soweit ist. Und ich höre zu. Ich habe alle Freiheiten dieser Welt und völlig freiwillig meine Ohren mitten auf dem Tisch platziert, den ich den ihren nenne.
Sie bilden eine gute Gemeinschaft. Kolleginnen, die seit vielen Jahren Abend für Abend zusammenkommen. Kolleginnen, die einander helfen, wenn es nötig ist. Kolleginnen, die Selbstgebackenes  und Geschichten teilen. Langsame werden von Schnellen gedeckt. Die Stimmung trägt. Auch mich. Ganz selbstverständlich.
Feierabend ist, wenn alles fertig ist. Dann sammeln sich alle in der Halle und die Chefin verteilt die Damen, wie uns nennt, auf die Taxen. Es ist Nacht und irgendein Vertrag sieht vor, dass wir Frauen nach 24 Uhr nach Hause gefahren werden. Ich bin versucht, das fürsorglich zu nennen. Andere sagen, ist halt Vorschrift.
Meine Zeit dort wird zu Ende gehen. Die Frauen, ihre grundsätzliche Zufriedenheit, ihre Freude an genau dieser Arbeit und die Akzeptanz der Umstände ihres Lebens werden mich auch über die letzte Taxiheimfahrt hinaus begleiten. Ich werde manchmal versucht sein, sie als etwas Besonderes zu erinnern. Sie würden wohl sagen: ist doch normal.


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Jedes Grundstück in dieser herrlich wald- und feldumrahmten Gegend ist durch einen mehr oder weniger hohen Zaun vom direkt angrenzenden Stück Erde getrennt. Mögen es 500 Quadratmeter Garten sein, die die einst gleichen Häuser umgeben. Eine Siedlung wie so viele andere in unserem Land. Heute zum Stadtgebiet gehörend, ehemals Randlage. Wie viel Freud und wie viel Leid mögen diese Gebäude schon gesehen haben? Die Straßenbahn fährt mich langsam an der langen Reihe Häuser vorbei. Manch einer hat Anbauten an sein Haus geklebt, Holzhäuschen im Garten verteilt oder sogar eine Art Swimmingpool in der Erde verankert. Beinahe jeder Garten wirkt gepflegt. In manchen Fenstern sehe ich außer schmucken Gardinen jede Menge Dekoration. Die Eingangstüren tragen beinahe allesamt Kränze  und ich frage mich, was sich wohl hinter diesen Türen abspielt. Was macht der Besitz eines solchen Stückchens Erde mit seinen Eigentümern? Was glauben sie mit ihm machen zu müssen? Arbeit und Anstrengung erscheinen mir spürbar. Ich kann hier keine Freude entdecken. Liegt es nur an mir?
Während die Bahn mit mir durch diese akkurate Geisterlandschaft gleitet, sehe ich keinen einzigen Menschen. Nicht einmal ein Hund tobt in einem der Gärten. Es ist helllichter Tag. Die Sonne scheint gar nicht so übel und es wirkt doch, als lebte dort niemand. Meine an sich lesende Begleitung sagt, kurz aufschauend, „naja, die sind arbeiten. Gehört doch alles der Bank. Sone Rückzahlung zieht sich.“ Mag sein, dass sie Recht hat, die Begleitung. Mag sein, dass es hier an Wochenenden lebendig zugeht. Mag sein, dass sich Törchen in den Zäunen öffnen oder die verbindende Straße bevölkert ist. Mag sein. Vorstellbar ist es kaum.
„Was mögen wohl die Zugvögel auf ihrem kontinenteumrundenen Weg denken, wenn sie solche Siedlungen überfliegen?“ habe ich wohl laut gefragt. Meine mit mir reisende Begleitung zuckt nur mit den Schultern und auch ich lehne mich für den Rest der Reise innerlich zurück.

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Den ganzen Sommer laufe ich barfuß auf Kies. Automatisch zieht sich die Aufmerksamkeit vom Kopf in die Füße. Keine Anstrengung. Keine Gedanken. Ich bin förmlich diese Füße und vielleicht auch dieser Kies. Ich liebe diese Art des Gehens.

Oder ich laufe auf Sand. Feinem trockenen oder schwerem feuchten Sand. Auch hier verläuft sich kaum ein Gedanke in die Situation. Fußsohlen spüren Sand. Rollen sich ab, heben sich kurz und nehmen erneut Kontakt auf. Wie von selbst tut der Körper seinen Dienst in Folge der Fußbewegung inmitten der Weite, die die automatische Konzentration erlaubt.

Während anderer Sommer laufe ich barfuß über Asphalt. Ungeschmeidiger. Ich erinnere die Sohlen auf Sand und Kies. Vergleiche. Denke und habe Mühe mit den Schritten. Diese Konzentration verengt. Mein Blickfeld und mein Erleben. 

Manchmal  laufe ich barfuß auf Asphalt und spüre doch die Leichtigkeit des Kieses all der anderen Sommer unter den Füßen und schon verschwindet die Anstrengung der bewussten Körperbewegung. Manchmal verschmilzt der Moment von damals mit dem von heute. Manchmal verschmelze ich auch in der Stadt mit dem Land. Auch in der Schwere mit dem Leichten.

Als ich das frisch gemähte Gras rieche, ignoriere ich das „Nichtbetreten-Schild“, streife die Schuhe ab und genieße nicht nur den heimatlichen Duft. Ich gehe Runde um Runde. Und spüre all die Böden, die meine Füße erlebten, jetzt.


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Manchmal finde ich mich wieder. Mitten im Ring. Angezählt, auch durch die Buh- und Begeisterungsrufe der zuschauenden Meute, suche ich den Herausforderer, dem ich folgte. Aufrecht wohl. Doch unverständlich. Auch für mich. „War nur Spaß“ hat er gesagt und sich aus dem Staub gemacht, den er selbst aufwirbelte.  Auch diese Leere lehrt. Mindestens mich.

Manchmal ducke ich mich vor Hieben, die in meinen Wunden wühlen.
Manchmal bleib‘ ich stehen und blute einfach. Auch die Altlast aus.

Manchmal stelle ich mich mitten in den Ring. Bin mir der Zuschauer bewusst und fordere selbst heraus. Nicht nur mich.


Manchmal erhört jemand den Ruf und spielt mit. Aufrecht und sehr verständlich. Ich sag dann: „was für ein Spaß“ und mit Glück find‘ ich Diamanten im gemeinsam aufgewirbelten Staub. 

Manchmal werf' ich Diamanten in den Ring und freu' mich an sammelnden Künstlern, die Schmuck daraus machen, der seinen Weg zu wieder anderen findet.

Manchmal finde ich mich wieder. Mitten im Ring. Oder daneben. Dann steh' ich da und freue mich. Einfach so. Ohne Anlass.

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Das junge Pärchen in der Straßenbahn sitzt sich gegenüber. Also er ihr und sie ihm. Ihr ebenfalls junger Hund tollt zu ihren Füßen. Während sie beide auf ihre Smartphones starren und sich ab und an gegenseitig ein Foto zeigen, bellt, nagt und krabbelt dieses sehr junge verspielte Hündchen fast ungestört. Sie sagt ab und an, ohne aufzusehen: „Aus“ und er zieht ihn manchmal an der Leine zu sich heran, klopft seinen Kopf, rauft mit ihm und rangelt. Als der Hund das endlich mit extrem lautem Bellen und Zähnefletschen beantwortet, droht ihm der junge Mann mit den Worten: „Ich sitze immer noch am längeren Hebel“. Für mich klingt es, als wolle er noch hinterher schieben: „Solange du die Füße unter meinen Tisch setzt … “ Seine Freundin schaut kurz auf und sagt mit wieder sinkendem Blick: „Ich darf meinem Vater auch nicht widersprechen.“ Ohne Zusammenhang?

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Die Dame mittleren Alters fährt mit den Händen durch ihr stark fettiges Haar, sortiert die Tüten zu ihren Füßen und erklärt ihrer Nachbarin, ungefragt: „ich fahre die Strecke jeden Tag um diese Zeit. Zur Arbeit!“ Die Nachbarin starrt weiter nach vorne als spräche niemand mit ihr. „Sie müssen nicht denken, ich sei obdachlos. Das müssen sie nicht!“ Auch als sich die Sprechende mit ein wenig Nachdruck zur Schweigenden beugt, tut diese als höre sie nichts. „Nachher fahre ich wieder nach Hause. Das können Sie mir glauben!“

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Als der Bettler, der eben noch mit abgewinkelten Bein auf der Ecke saß, an der er immer sitzt, plötzlich aufspringt und bei Rot über die Ampel läuft, um die Straßenbahn noch zu erwischen, sagt der südländisch wirkende Mann, der mit mir auf Grün wartet, in fast lupenreinem Deutsch: „das kann er also. Soll doch arbeiten das Pack. So wie wir.“

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Wenn jemand erst knapp über vierzig ist, sagt er gerne mal: „ach das besprechen wir am Sonntag.“ So wie du am Freitag. Oder so ähnlich wie ich, als ich das versprochene Schnittlauch einmal doch nicht mitbrachte.

Heute ist Sonntag. Wie jede Woche. Markttag in Consell. Noch bevor ich auf meinem Standplatz einparken kann, sagt Rosi: „bleib lieber erst mal sitzen.“  Natürlich bin ich verwundert. Tu aber was sie sagt. Du kennst sie ja.
Und dann erfahre ich, dass du tot sein sollst. Plötzlich und unerwartet. Von einem Moment auf den anderen. Die Angie hat es der Rosi erzählt. Am Telefon. Gestern schon, kurz nachdem du angeblich auf dem Weg zum Bett zusammen gebrochen bist. Sollst gleich tot gewesen sein, hat sie der Rosi gesagt. Und die erzählt das jetzt mir und im Laufe des Tages all den anderen, die nach dir, beziehungsweise nach ihrem Geld oder all den Dingen fragen werden, die ihnen gehören, aber in deinem Besitz waren. Ich bin schockiert.

Du weißt selbst, dass ich dich nicht gut kannte. Ein Schwätzchen hier und ein gemeinsamer Kaffee da. Zeitvertreib unter Kollegen. Fragen mochtest du keine wirklich beantworten. Geschichten hast du erzählt. Manche habe ich geglaubt. Viele nicht. Vielleicht lag ich richtig. Vielleicht auch nicht. Du warst mir da keine Hilfe. Das weißt du selbst.

Manchmal habe ich dir ein Glas gefriergetrocknetes Schnittlauch aus Deutschland mitgebracht. Weil du das mochtest. Und die Oma auch. So nanntest du die Frau, bei der du wohntest. Die Frau, die dir kostenloses Heim gab, wie ich heute erfahre. Von einem der vielen Gläubiger, die zu Rosi und mir kommen, um zu erfahren, was wir wissen und um über dich zu schimpfen.
Ob alles stimmt, was sie mit hochgereckten Fäusten sehr laut erklären, weiß ich natürlich auch diesmal nicht. Aber die Forderungen sind haarsträubend. Wie konntest du solch horrende Schulden auflaufen lassen? So oft hast du Wohnorte verlassen müssen? So oft wie sie alle sagen? Gesucht wirst du? Auch von der Polizei? Ich höre von tatsächlich niemandem Gutes über dich.

Mir schuldest du nur das verschobene Gespräch. Kein Ding. Ich spreche. Du schweigst halt. Eingelöst würde ich sagen.

Ich bin schockiert. Angie kommt und erzählt die Sterbegeschichte rauf und runter. Dramatisch. Theatralisch. Detailversessen und irgendwie doch Details auslassend. Rosi zuckt die Schultern als ich meine Zweifel  laut ausspreche und schiebt es auf Angies verständliche Ausnahmesituation. Mag sein, dass du tot bist.

Du wirst mir immer einmal wieder einfallen. Wenn ich von Lug und Betrug höre. Wenn mir von plötzlichen Todesfällen in materiell aussichtslosen Situationen erzählt wird und wenn ich gefriergetrocknetes Schnittlauch im Supermarktregal sehe. Ich hätte es dir womöglich auch in Zukunft mitgebracht. Trotz allem. Ich bin in diesen Dingen unbelehrbar. Oder einfach naiv genug.


Mag sein, dass du tot bist. Lebendig oder tot.

2 Kommentare:

  1. liebe Brigitta, kann es sein, dass HIER noch keiner war, sich weder dafür interessierte oder gar mitgelesen hat"?
    Kein Kommentar - das sagt man wohl wenn es dazu nichts zu sagen gibt, wenn man sprachslos still vor deinen zeilen sitzt, sie in sich einwirken lässt, bei manch Worten deiner Gedanken mit weint und bei anderen lächelt und bestätigend nickt.
    es ist faszinierend Dir zuzuhören...
    tagebuchartig ziehen deine Gedanken an mir vorbei
    und ich denke, ja, ja - ja
    das ist eine wunderbare Möglichkeit sich zu öffnen, den gedanken Raum zu geben, sich mal leise, mal laut zu artikulieren und so kostbar fein wenn man es kann.Ohne Scheu, nur für sich und
    all jene die fast durch Zufall hier landen um deinen gedanken zu lauschen.(ganz geheim um wortlos, aber glücklich wieder zu gehen weil deine Gedanken den/oder die Leser erfüllt haben, der dir Hier - Dies erzählt wie sehr es ihn - sie berührt hat...
    ich danke dir für dies Erlebnis der besonderen Art , die sich andere - warum auch - nicht trauen.
    herzlichst angelface

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  2. welch ein Fundus von Texten...
    wunderschön...
    endlich genug zum Lesen für mich...!!!!!!!!!!!!!
    dieser Vormittag und andere, vielleicht öde ist gerettet eine größere FReude konntest du mir - kaum machen, herzlich angelface

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