lebendige Augenblicke
(gesammelte Texte aus dem nun gelöschten
"Formlos"-Blog,
in dem ich eine zeitlang regelmäßig kurze Texte zu erlebten
und beobachteten Augenblicken meines Lebens geschrieben habe.
Neue Texte aus dieser Rubrik werde ich
hier in der Manusskriptschublade veröffentlichen)
Die Geburt folgt auf den letzten Arbeitstag der
gewissenhaften jungen Frau, die nun plötzlich Mutter ist. Auch dem Kind fehlt
die Erfahrung einer Ruhepause vor dem nächsten Schritt. Diesen Mangel wird es
lange Zeit für eine Tugend halten.
*
Das kleine Mädchen hält, breitbeinig um Haltung und
Gleichgewicht bemüht, die noch kleinere Schwester an der Hand. Sie wird sie
schützen müssen vor der Kälte, die den Raum erfüllt, seit die Mutter ohne sich
zurückkam. Das unsichtbare Bild ihres Vaters, leblos am Strick hängend, in sich
gefroren. Sie wird sich wiederfinden. Doch dem Mädchen bleibt lange Zeit die
Gewissheit der Überforderung in erdrückend leerem Raum.
*
Das Zimmer misst zehn Schritte von der Tür zum Fenster. Ebenso
viele vom Fenster zur Tür. Der Gedanke „Ich muss hier raus“ passt jeweils
dreimal in diesen Weg. Mit dem ersten Gehalt öffnet sich die Tür zu einem
Leben, das diesen Gedanken doch noch oft produzieren soll.
*
Zu Tomatensalat servieren sie viel Brot. Essig, Olivenöl,
Salz und Pfeffer stehen auf jedem Tisch. In griechisches Öl getunktes Brot
sättigt nicht nur den Körper. Die Nächte verbringe ich am Strand. Morgens
tausche ich den Schlafsack mit dem Handtuch, das das Salz der Nacht und des
Meeres bereits seit Wochen sammelt. Eines Tages werde ich es waschen, mich selbst in dieser Lauge aufgestauter
Freiheit baden und den einst angehaltenen Tanz fortsetzen.
*
Die Feierabendlethargie der im Zug Heimfahrenden wird jäh
unterbrochen. Das Leben selbst steigt ein.
Der alte Mann mit den roten Bäckchen trägt Knickerbocker und Wanderstock
begeistert wie ein kleiner Junge, der seine erste Bergtour hinter sich hat und
es sich nun erschöpft aber glücklich am Jausentisch der Mutter bequem macht.
Brotkauend zieht er Aufmerksamkeit und berichtet von 30 Kilometern. „Zu
Fuß?“ fragt die junge Frau in den
Hochhackigen neben ihm. „Klar“ murmelt er kauend und offensichtlich glücklich.
Schweigend wendet sie sich ab und überlässt der Frau mit den Augenringen das
Feld. Die ist überzeugt, dass das nicht normal sei und er sich Zeit und
Gesundheit wohl gestohlen habe. Sie jedenfalls könne das nicht. Und das sei
schließlich normal. Dem Lebendigen schmeckt das Brot und die immer noch
sprudelnden Worte machen ihm nicht nur nichts aus, sie scheinen ihn gar zu
interessieren. Jedenfalls betrachtet er die Augenberingte geduldig und fasziniert. Kurz vor seiner
Station, als sie kurz Luft holt und er schon einmal aufsteht, rät er fast
liebevoll: „Warten sie nicht zu lange mit der Kehrtwende. Mir wäre es beinahe
passiert.“
*
Meine Schwester erzählt mir, während wir in unserem
Kinderfotoalbum blättern, wie sie mich Freunden beschreibt, die mich noch nie
erlebt haben.
„Die ist eine von denen, die am Strand sitzen, Armbänder
knüpfen und an Urlauber verkaufen.“ Sie wirkt ein bisschen stolz, ich denke
„schön wär’s“ und erinnere mich.
*
Der Friseurladen wirkt edel. Eigentlich zu edel für mich.
Kunst, oder das, was man dafür halten sollte, überall. Die Haare sind zu lang
und wer weiß, wann ich wieder Zeit habe. Also gehe ich hinein. Der sehr gut
aussehende, offensichtlich schwule Friseur mustert mich von oben bis unten.
Lächelt, seufzt, deutet auf einen Stuhl, wirft mir den Umhang um die Schultern
und sagt „ich schneide grundsätzlich trocken“. Die Frage „nur die Spitzen oder
mehr?“ würde ich gerne beantworten, komme aber nicht zu Wort. Er beschließt
„mehr“ und schneidet auch schon. Als er
fertig ist, betrachtet er, während er mit den Händen meine Haare lockert, sich
und mich im Spiegel. Zufrieden sieht er nicht aus. Was mag er haben? Ist doch
schön geworden, denke ich und erfahre schneller als mir lieb ist, wo der Hase
im Pfeffer liegt. Was er beanstandet, nannte meine Mutter „Rasse“. Doch
Oberlippenflaum und dicke Augenbrauen „gehen gar nicht“, verrät er und schenkt
mir neben diesem wiederholt missbilligenden
Blick auf dem Umweg über den Spiegel die kopfschüttelnde Frage „wer steht denn
auf so was?“ Ich könnte sie, selbst wenn
ich zu Wort käme, nicht beantworten. Mir fehlen Gedanken darüber. Ihm
offensichtlich nicht. Er findet noch viele Worte dafür.
Beim Hinausgehen, denke ich „ein bisschen schlanker stünde
ihm vielleicht auch ganz gut“ und hoffe, dass diese Idee den Flaum und die
Dicke meiner Brauen rechtfertigt.
*
In der gut gefüllten Abflughalle in Bangalore bin ich
offensichtlich die einzige Europäerin. Das sehen auch die Männer am
Abfertigungsschalter. Sie verlassen ihren Arbeitsplatz, kommen zu mir, weinen
und umarmen mich. Lady Di ist tot. Sie war so eine Gute, sagen sie. Trauern sie
selbst? Oder glauben sie, mich, die ich bis eben vom Unfall nichts wusste,
trösten zu müssen?
*
Im Traum der nun vergangenen Nacht wusste ich mich
träumend. Ein Gedanke und die Welt um
mich herum veränderte sich. Rasant. Nichts existierte wirklich. Probleme lösten
sich in Nichts auf und auch Festes hielt der Beobachtung nicht stand. Ob das
auch am Tag funktioniert?
*
Der starke Wind nimmt dem Körper ein bisschen der Anstrengung,
die ihm die Temperaturen verursachen und macht dem Sonnenschirm zu schaffen,
der mir herrlichen Schatten spendet. Auf dem Weg von hier nach dort, in der
Pause zwischen zwei Aktivitäten, die zu meinem Alltag gehören, erlaube ich mir
ein Päuschen. Der Espresso schmeckt und die Aussicht gefällt mir auch heute
wieder. Nur die Uferpromenade trennt mich vom vollen Strand mit seinen
Handtüchern, Liegen, Luftmatratzen, Sonnenpilzen, weißen, braunen, verbrannten
Körpern und dem Meer. Wenn ich den Hals recke, gelingt es mir, nur den Horizont
zu sehen, diese Linie, die keine ist und jeden Fernwehtraum scheinbar leicht in
Wirklichkeit verwandeln könnte.
Noch bevor ich mich in fernen Beobachtungen, Träumen und
Überlegungen verlieren könnte, beginnt ein lautes nahes Schauspiel. Eine Horde
Deutscher fällt ein. Sie rücken gut geschützte Tische aus dem Schatten der
Schirme und zueinander, klauben alle freien Stühle zusammen und einigen sich
mit Schwierigkeiten auf eine Sitzordnung. Es sind die Verlierer, die nun in
Richtung Eiscafé schauen.
Die genaue Betrachtung der Nachbartisch-Körper halte ich
kurz. Sie sind nur mit Badehosen, Bikinis, Badeanzügen, Kappen und Schlappen
bekleidet und allesamt kein Augenschmaus. Francesco, der Sommerkummer gewöhnt
ist, begrüßt die neuen Gäste mit einem flotten spanischen Spruch und ein
bisschen „gebrochenem“ Deutsch, das nicht nötig wäre, da er lange in
Deutschland gelebt hat und perfekt spricht.
Das dann Bestellte bringt er so schnell er kann, doch mehr
als drei Portionen kann er nicht tragen. Das wiederum trägt nicht zur
Verbesserung der offensichtlich eh schon nicht besonders guten Stimmung der
Gruppe bei. Denn das Eis muss vor dem Verzehr fotografiert werden. Und zwar
nicht einzeln, sondern alle Portionen auf einmal. „Ist ja einmalig, was man
hier geboten bekommt. So schön bekäme man das bei uns nicht!“ Ich denke, außer
vielleicht bei Francesco in seiner Zeit mit seinem italienischen Eiscafé in
einer deutschen Stadt oder bei einem der vielen anderen Italiener, die ja
europaweit verstreut sind. Sage aber nichts, sondern konzentriere mich jetzt
auf das nörgelnde Kind, das wie ich dem schmelzenden Eis zusieht, aber nicht
einmal nippen darf. Als das Foto endlich geschossen ist, sehen längst nicht
mehr alle Eisgerichte schön aus, aber Urlaub ist Urlaub und der muss ja
dokumentiert werden.
Während die Herrschaften nun ihr Eis löffeln, bestellen sie
schon mal ein paar Bier dazu. Neben den Worten „Ist ja schließlich Urlaub“ und
„Man gönnt sich ja sonst nix“, sondern sie ein Vorurteil nach dem anderen über
das Land, in dem sie sich befinden, seine Bewohner und Vorübergehende ab.
Zufrieden sind sie eigentlich mit kaum etwas und auf die Idee, dass sie jemand
verstehen könnte, kommen sie seltsamerweise auch nicht. Es sind Menschen, die
zu Hause vermutlich peinlich genau auf ihre Kleidung achten würden und sich die
Lästereien im Café nur hinter vorgehaltener Hand oder gleich nur hinter
verschlossenen Türen erlauben würden. Eigentlich erstaunlich, denke ich, obwohl
es mich ja schon lange nicht mehr erstaunt. Man gewöhnt sich an so vieles.
Ob sie das Eis, dass sie per MMS an Verwandte geschickt
haben, genossen haben? Ob sie ganz heimlich doch irgendetwas oder vielleicht
sogar alles, was sie hier erleben können, mögen? Das Kind jedenfalls nörgelt jetzt
nicht mehr. Er hat noch einen weiteren Eisbecher bekommen und spachtelt
andächtig. Seine Mutter schaut versonnen übers Meer und eine andere Frau der
Gruppe läuft eben rüber zum Strand und streift sich ihr Kleid über. Das geht ja
auch. Vielleicht haben sich die Gespräche ja auch später noch verändert. Wenn
sie aufbrechen werden, bin ich schon längst nicht mehr da. Francesco wird die
durchgeschwitzten Stuhlkissen umdrehen, die Tische an ihren Platz zurück
schieben, den mitgebrachten Sand zusammenfegen und am Abend nach 16 Stunden
Arbeit erfreut seine Kasse zählen.
*
Der Handgepäckkontrolleur eines deutschen Flughafens
entdeckt mithilfe aufwändigster Untersuchungen drei Feuerzeuge in meiner großen
und insgesamt ziemlich chaotisch gepackten Tasche. Anscheinend ist nur eins
erlaubt. Als er sie konfiszieren möchte, frage ich ob ich sie Mitreisenden
schenken darf. Nach kurzer Überlegung, die von langsamem Kopfschütteln
begleitet wird, bejaht er und ich gebe sie den Menschen, die hinter mir in der
Schlange stehen. Außer Sichtweite geben mir beide Beschenkte, unabhängig
voneinander, die Feuerzeuge wieder. Auch sie haben keine Idee, wie ich damit
nun auf dem Flug Schaden anrichten könnte. Ein Hoch auf die Regeln. Auf alle.
*
Im Mathematikleistungskurs soll ich Kurven diskutieren.
Nicht nur im Heft sondern auch an der Tafel. Als ich einen Fehler mache, lehnt
sich der Lehrer, mit dem Hintern fast auf seinem Pult sitzend, weit zurück, als
wolle er Anlauf nehmen, nicht nur mit Worten, sondern ganz und gar. Ich soll
Kurven diskutieren. „Das werden sie ja wohl besser können. Wenn ich mir ihre
Kurven so anschaue.“ Er liebt es, die Verbesserungen an der Tafel, ganz
körperlich, über die Schultern der jungen Frauen, die seine Schülerinnen sind,
hinweg zu machen. Wir kennen das. Er ist schon lange unser Lehrer. Und doch.
*
Wenn wir Familienurlaub machen, dann fahren wir dorthin, wo
Natur ist. Und dann wandern wir. Der Vater zügigen Schrittes vorneweg. Die
Mutter langsam vor der Schwester, die das Rücklicht bildet. Sie ist darauf
bedacht, die Jüngste nicht zu verlieren. Man sagt, die trödelt immer so. Doch
ist es die Genauigkeit der Beobachtung, die sie versinken lässt. Sie vergisst
die Gesellschaft, in der sie loszog, bis man sie erinnert. Ich laufe irgendwo
dazwischen. Im Bemühen niemanden der Familie zu verlieren entgeht mir manch
schöner Augenblick.
*
Wirr, unkontrolliert und zusammenhanglos schnappe ich sowohl
Wortfetzen Vorübergehender als auch Gedanken aus der Luft, die als frisch
bezeichnet wird und wegen der ich mich nun am Flüsschen befinde und das tue,
was ich Spazieren gehen nenne. Die Menschen mit der Outdoorsportkleidung nennen
es wohl Walking und die mit der Freizeitkleidung und den zwei Stöcken
vermutlich Nordic Walking. Was uns eint, ist der Ort, an dem wir uns befinden
und die Luft, die wir atmen.
Ich werfe einen Ast in den kleinen Fluss und gehe eine
Weile, ihn beobachtend, neben ihm her. Dann wird er schneller oder ich
langsamer.
Eine Radfahrerin sagt zu ihrem Kind auf dem Gepäckträger:
„wackel‘ nicht so“ und das Kind wirkt erschrocken. Ob es ahnt, dass es
ebenfalls auf dem Boden landet, wenn die Mutter das Rad nicht mehr senkrecht
halten kann und umfällt?
Eine Frau sagt zu ihrem Mann, der vorsichtig um eine Pfütze
auf dem ohnehin vermatschten Weg zu tänzeln versucht: „Geh‘ ruhig weiter.
Schuhe kann man putzen.“ Und ich suche meinen Ast, den ich in der Ferne nur
noch erahnen kann. Wird er wohl eines Tages im Meer landen? Oder wird er
einfach irgendwo am Ufer hängen bleiben? In diesem Fluss oder in einem der
folgenden, der aus dem gleichen Wasser gemacht sein wird, aber einen anderen
Namen trägt?
Als ich mitten in eine Pfütze stapfe, denke ich an die eben
gehörten Worte über die Möglichkeit des Putzens von Schuhen und freue mich an
der dieses Putzen ersetzenden Idee, mit den nun schmutzigen Schuhen durchs
feuchte Gras zu schluffen. Genial. Wo kommt so eine Idee her? Wissen?
Erfahrung? Mir ist, als kam sie aus dem Nichts und ich ermittle, indem ich
durchs Gras schluffe, dass die Idee nur mittelmäßig war.
Vogelzwitschern mischt sich mit Autogeräuschen der nur noch
wenig entfernten Straße und ich beobachte einen Vater, der mit seiner kleinen
Tochter die Enten füttern will. Unter den neugierig offenen Blicken des Kindes
wirft er ein Stück Brot hinter einer Ente her, die sofort Reißaus nimmt. Mag
sein, dass die Ente erschrak. Mag sein, dass sie satt war. Das Kind weint. Der
Vater sagt: „Guck‘, was für ein schönes Tier.“ Ob das Brot wohl meinen Ast auf
dem Weg zum Meer treffen wird?
Als ich beschließe, nicht umzukehren, sondern den Rundweg
über die Brücke zu nutzen, überlege ich, ob nicht auch ein Hin-und-Rückweg auf
gleicher Strecke letztlich ein Rundweg wäre und freue mich den Rest des Weges
am Geräusch meiner Schuhe auf dem aufgeweichten Boden.
Mit all den anderen Sonntagsspaziergängern habe ich wieder
einmal den Lauf der Welt verändert. Schließlich hätten wir alle zu Hause
bleiben können? Die Pfützen wären unbehelligt von unseren Schuhen geblieben,
die Ente hätte ihre Ruhe behalten und mein Ästchen läge noch am Ufer. Oder doch
nicht?
*
Mein Kopf schmerzt und die Augen transportieren unaufhörlich
Bilder und lässliche Informationen ins Innere. „Sale“. „Bis zu 70%“.
„Totalausverkauf“. „20% auf alles Reduzierte“. Dicke Menschen und Dünne, Schöne
und weniger Schöne, Junge und Alte, Gepflegte und weniger Gepflegte, Obdachlose
und solche mit vermutetem Obdach. Es scheint, als dringen bei diesem Tempo die
Urteile gleich mit dem Gesehenen ein. Auch Nase und Ohren tun ihren
selbstverständlichen Dienst, der zu meiner Überforderung beiträgt.
Bratwurstgeruch vermischt mit verbrannter Pizza und dem unfreundlichen Ruf nach
dem Kauf einer Zeitung oder wenigstens einer Spende. Verdenken kann ich dem
Zeitungsverkäufer seine spürbare Gereiztheit nicht. Scheint doch hier jeder
sich selbst der Nächste und taumelnd auf der Jagd nach Irgendetwas zu sein. Die
meisten laufen schnell. Hierhin und dorthin. Mit Tüten und ohne.
„Ich brauch jetzt noch UNBEDINGT einen grünen Schal“ höre
ich im langsamen Vorbeigehen. „Du hast doch den schönen Grünen zu Hause.“ „Der
geht doch nicht zu DEM Mantel!“ Der Mann, der sich an den zu Hause liegenden
Schal erinnerte, seufzt und die Frau schaut ihn abfällig an. Wie lange werden
sie sich noch durch die Geschäfte quälen? Und warum eigentlich wirklich?
Ich sehne mich nach Ruhe. Für meine Augen, meine Ohren,
meine Nase und mich.
Ich habe nach einem Mantel geguckt. Einem Hellen, einem
Schönen und einem der warm hält, falls es kälter wird. Doch heutzutage sehen
die alle gleich aus. Einen wirklich Schönen konnte ich nicht entdecken.
Ich beschließe, weiterhin das zu mögen, was ich bereits
besitze und gehe zum Rhein herunter. Das Wasser beruhigt mich ein wenig. Die
Schiffe liegen einfach so da und die Touristen mögen die Atmosphäre und das,
was sie sehen wohl auch. Ich höre ruhige, freundliche Worte in fremden
Sprachen, beobachte das fließende Wasser und gehe ganz langsam stromaufwärts.
Die Sonne scheint fast herbstlich und meine Füße tragen mich automatisch immer
weiter. Hier ist es schön, weiß ich, ohne es denken zu müssen.
Im Zug nach Hause beruhigt sich mein Kopf und auch meine
Seele. Ich schaue aus dem Fenster und die vorbeifliegenden Bäume und Sträucher
entlasten meine Augen. Nach und nach fallen die überflüssigen Eindrücke von mir
ab und ich fühle mich mit jedem Kilometer besser.
Als ich aussteige, spiegele ich mich kurz im Fenster des
wartenden Zuges, bemerke meine schöne warme rote Jacke, frage mich, was ich in dieser Fußgängerzone
eigentlich gesucht habe und amüsiere mich. Über mich selbst. Was soll ich also
sagen? Es ist ein erfolgreicher Tag.
*
Ich hab den Tag gegen die Nacht getauscht. Oder umgekehrt.
Wir sind nur Frauen im Büro. Der Dienst beginnt, wenn die Kinder im Bett sind
und die Männer mit dem Bier vorm Fernseher liegen. Sie bekommen das alles gut
geregelt. Wenn sie Pausenbrote schmieren und zur Eile wegen der Schulbusse
mahnen, werden sie sogar ein paar Stündchen geschlafen haben. Der Job ist
ideal, sagen sie. Alle.
Wir sortieren Anlagen hinter Kontoauszüge. Manuell. Immer
vier Frauen an einem Tisch. Im täglichen Wechsel. Ich liebe die Gespräche, denen ich fast
andächtig zuhöre. Sie reden vom Alltag.
Von den Kindern, den Männern, von Krankheiten und Träumen. Wenn die Kinder groß
sind, wenn der Mann nicht mehr arbeitslos ist, wenn die Mutter nicht mehr
gepflegt werden muss, wenn der Kredit abbezahlt ist, wenn die Zeit mal günstig
ist. Dann, ja, dann soll‘s losgehen. Dann werden sie sich erfüllen, was jetzt
nicht geht. In diesen Nächten mit automatisch sortierenden Händen malen sie
sich aus, was sie tun werden, wenn es soweit ist. Und ich höre zu. Ich habe
alle Freiheiten dieser Welt und völlig freiwillig meine Ohren mitten auf dem
Tisch platziert, den ich den ihren nenne.
Sie bilden eine gute Gemeinschaft. Kolleginnen, die seit
vielen Jahren Abend für Abend zusammenkommen. Kolleginnen, die einander helfen,
wenn es nötig ist. Kolleginnen, die Selbstgebackenes und Geschichten teilen. Langsame werden von
Schnellen gedeckt. Die Stimmung trägt. Auch mich. Ganz selbstverständlich.
Feierabend ist, wenn alles fertig ist. Dann sammeln sich
alle in der Halle und die Chefin verteilt die Damen, wie uns nennt, auf die
Taxen. Es ist Nacht und irgendein Vertrag sieht vor, dass wir Frauen nach 24
Uhr nach Hause gefahren werden. Ich bin versucht, das fürsorglich zu nennen.
Andere sagen, ist halt Vorschrift.
Meine Zeit dort wird zu Ende gehen. Die Frauen, ihre
grundsätzliche Zufriedenheit, ihre Freude an genau dieser Arbeit und die
Akzeptanz der Umstände ihres Lebens werden mich auch über die letzte
Taxiheimfahrt hinaus begleiten. Ich werde manchmal versucht sein, sie als etwas
Besonderes zu erinnern. Sie würden wohl sagen: ist doch normal.
*
Jedes Grundstück in dieser herrlich wald- und feldumrahmten
Gegend ist durch einen mehr oder weniger hohen Zaun vom direkt angrenzenden
Stück Erde getrennt. Mögen es 500 Quadratmeter Garten sein, die die einst gleichen
Häuser umgeben. Eine Siedlung wie so viele andere in unserem Land. Heute zum
Stadtgebiet gehörend, ehemals Randlage. Wie viel Freud und wie viel Leid mögen
diese Gebäude schon gesehen haben? Die Straßenbahn fährt mich langsam an der
langen Reihe Häuser vorbei. Manch einer hat Anbauten an sein Haus geklebt,
Holzhäuschen im Garten verteilt oder sogar eine Art Swimmingpool in der Erde
verankert. Beinahe jeder Garten wirkt gepflegt. In manchen Fenstern sehe ich
außer schmucken Gardinen jede Menge Dekoration. Die Eingangstüren tragen
beinahe allesamt Kränze und ich frage
mich, was sich wohl hinter diesen Türen abspielt. Was macht der Besitz eines
solchen Stückchens Erde mit seinen Eigentümern? Was glauben sie mit ihm machen
zu müssen? Arbeit und Anstrengung erscheinen mir spürbar. Ich kann hier keine
Freude entdecken. Liegt es nur an mir?
Während die Bahn mit mir durch diese akkurate
Geisterlandschaft gleitet, sehe ich keinen einzigen Menschen. Nicht einmal ein
Hund tobt in einem der Gärten. Es ist helllichter Tag. Die Sonne scheint gar
nicht so übel und es wirkt doch, als lebte dort niemand. Meine an sich lesende
Begleitung sagt, kurz aufschauend, „naja, die sind arbeiten. Gehört doch alles
der Bank. Sone Rückzahlung zieht sich.“ Mag sein, dass sie Recht hat, die
Begleitung. Mag sein, dass es hier an Wochenenden lebendig zugeht. Mag sein,
dass sich Törchen in den Zäunen öffnen oder die verbindende Straße bevölkert
ist. Mag sein. Vorstellbar ist es kaum.
„Was mögen wohl die Zugvögel auf ihrem kontinenteumrundenen
Weg denken, wenn sie solche Siedlungen überfliegen?“ habe ich wohl laut
gefragt. Meine mit mir reisende Begleitung zuckt nur mit den Schultern und auch
ich lehne mich für den Rest der Reise innerlich zurück.
*
Den ganzen Sommer laufe ich barfuß auf Kies. Automatisch
zieht sich die Aufmerksamkeit vom Kopf in die Füße. Keine Anstrengung. Keine
Gedanken. Ich bin förmlich diese Füße und vielleicht auch dieser Kies. Ich
liebe diese Art des Gehens.
Oder ich laufe auf Sand. Feinem trockenen oder schwerem
feuchten Sand. Auch hier verläuft sich kaum ein Gedanke in die Situation.
Fußsohlen spüren Sand. Rollen sich ab, heben sich kurz und nehmen erneut
Kontakt auf. Wie von selbst tut der Körper seinen Dienst in Folge der
Fußbewegung inmitten der Weite, die die automatische Konzentration erlaubt.
Während anderer Sommer laufe ich barfuß über Asphalt.
Ungeschmeidiger. Ich erinnere die Sohlen auf Sand und Kies. Vergleiche. Denke
und habe Mühe mit den Schritten. Diese Konzentration verengt. Mein Blickfeld
und mein Erleben.
Manchmal laufe ich
barfuß auf Asphalt und spüre doch die Leichtigkeit des Kieses all der anderen
Sommer unter den Füßen und schon verschwindet die Anstrengung der bewussten
Körperbewegung. Manchmal verschmilzt der Moment von damals mit dem von heute.
Manchmal verschmelze ich auch in der Stadt mit dem Land. Auch in der Schwere
mit dem Leichten.
Als ich das frisch gemähte Gras rieche, ignoriere ich das
„Nichtbetreten-Schild“, streife die Schuhe ab und genieße nicht nur den
heimatlichen Duft. Ich gehe Runde um Runde. Und spüre all die Böden, die meine
Füße erlebten, jetzt.
*
Manchmal finde ich mich wieder. Mitten im Ring. Angezählt,
auch durch die Buh- und Begeisterungsrufe der zuschauenden Meute, suche ich den
Herausforderer, dem ich folgte. Aufrecht wohl. Doch unverständlich. Auch für
mich. „War nur Spaß“ hat er gesagt und sich aus dem Staub gemacht, den er
selbst aufwirbelte. Auch diese Leere
lehrt. Mindestens mich.
Manchmal ducke ich mich vor Hieben, die in meinen Wunden
wühlen.
Manchmal bleib‘ ich stehen und blute einfach. Auch die Altlast
aus.
Manchmal stelle ich mich mitten in den Ring. Bin mir der
Zuschauer bewusst und fordere selbst heraus. Nicht nur mich.
Manchmal erhört jemand den Ruf und spielt mit. Aufrecht und
sehr verständlich. Ich sag dann: „was für ein Spaß“ und mit Glück find‘ ich
Diamanten im gemeinsam aufgewirbelten Staub.
Manchmal werf' ich Diamanten in den Ring und freu' mich an
sammelnden Künstlern, die Schmuck daraus machen, der seinen Weg zu wieder
anderen findet.
Manchmal finde ich mich wieder. Mitten im Ring. Oder
daneben. Dann steh' ich da und freue mich. Einfach so. Ohne Anlass.
*
Das junge Pärchen in der Straßenbahn sitzt sich gegenüber.
Also er ihr und sie ihm. Ihr ebenfalls junger Hund tollt zu ihren Füßen.
Während sie beide auf ihre Smartphones starren und sich ab und an gegenseitig
ein Foto zeigen, bellt, nagt und krabbelt dieses sehr junge verspielte Hündchen
fast ungestört. Sie sagt ab und an, ohne aufzusehen: „Aus“ und er zieht ihn
manchmal an der Leine zu sich heran, klopft seinen Kopf, rauft mit ihm und
rangelt. Als der Hund das endlich mit extrem lautem Bellen und Zähnefletschen
beantwortet, droht ihm der junge Mann mit den Worten: „Ich sitze immer noch am
längeren Hebel“. Für mich klingt es, als wolle er noch hinterher schieben:
„Solange du die Füße unter meinen Tisch setzt … “ Seine Freundin schaut kurz
auf und sagt mit wieder sinkendem Blick: „Ich darf meinem Vater auch nicht
widersprechen.“ Ohne Zusammenhang?
*
Die Dame mittleren Alters fährt mit den Händen durch ihr
stark fettiges Haar, sortiert die Tüten zu ihren Füßen und erklärt ihrer
Nachbarin, ungefragt: „ich fahre die Strecke jeden Tag um diese Zeit. Zur
Arbeit!“ Die Nachbarin starrt weiter nach vorne als spräche niemand mit ihr.
„Sie müssen nicht denken, ich sei obdachlos. Das müssen sie nicht!“ Auch als
sich die Sprechende mit ein wenig Nachdruck zur Schweigenden beugt, tut diese
als höre sie nichts. „Nachher fahre ich wieder nach Hause. Das können Sie mir
glauben!“
*
Als der Bettler, der eben noch mit abgewinkelten Bein auf
der Ecke saß, an der er immer sitzt, plötzlich aufspringt und bei Rot über die
Ampel läuft, um die Straßenbahn noch zu erwischen, sagt der südländisch
wirkende Mann, der mit mir auf Grün wartet, in fast lupenreinem Deutsch: „das
kann er also. Soll doch arbeiten das Pack. So wie wir.“
*
Wenn jemand erst knapp über vierzig ist, sagt er gerne mal:
„ach das besprechen wir am Sonntag.“ So wie du am Freitag. Oder so ähnlich wie
ich, als ich das versprochene Schnittlauch einmal doch nicht mitbrachte.
Heute ist Sonntag. Wie jede Woche. Markttag in Consell. Noch
bevor ich auf meinem Standplatz einparken kann, sagt Rosi: „bleib lieber erst
mal sitzen.“ Natürlich bin ich
verwundert. Tu aber was sie sagt. Du kennst sie ja.
Und dann erfahre ich, dass du tot sein sollst. Plötzlich und
unerwartet. Von einem Moment auf den anderen. Die Angie hat es der Rosi
erzählt. Am Telefon. Gestern schon, kurz nachdem du angeblich auf dem Weg zum
Bett zusammen gebrochen bist. Sollst gleich tot gewesen sein, hat sie der Rosi
gesagt. Und die erzählt das jetzt mir und im Laufe des Tages all den anderen,
die nach dir, beziehungsweise nach ihrem Geld oder all den Dingen fragen
werden, die ihnen gehören, aber in deinem Besitz waren. Ich bin schockiert.
Du weißt selbst, dass ich dich nicht gut kannte. Ein
Schwätzchen hier und ein gemeinsamer Kaffee da. Zeitvertreib unter Kollegen.
Fragen mochtest du keine wirklich beantworten. Geschichten hast du erzählt.
Manche habe ich geglaubt. Viele nicht. Vielleicht lag ich richtig. Vielleicht
auch nicht. Du warst mir da keine Hilfe. Das weißt du selbst.
Manchmal habe ich dir ein Glas gefriergetrocknetes
Schnittlauch aus Deutschland mitgebracht. Weil du das mochtest. Und die Oma
auch. So nanntest du die Frau, bei der du wohntest. Die Frau, die dir
kostenloses Heim gab, wie ich heute erfahre. Von einem der vielen Gläubiger,
die zu Rosi und mir kommen, um zu erfahren, was wir wissen und um über dich zu
schimpfen.
Ob alles stimmt, was sie mit hochgereckten Fäusten sehr laut
erklären, weiß ich natürlich auch diesmal nicht. Aber die Forderungen sind
haarsträubend. Wie konntest du solch horrende Schulden auflaufen lassen? So oft
hast du Wohnorte verlassen müssen? So oft wie sie alle sagen? Gesucht wirst du?
Auch von der Polizei? Ich höre von tatsächlich niemandem Gutes über dich.
Mir schuldest du nur das verschobene Gespräch. Kein Ding.
Ich spreche. Du schweigst halt. Eingelöst würde ich sagen.
Ich bin schockiert. Angie kommt und erzählt die
Sterbegeschichte rauf und runter. Dramatisch. Theatralisch. Detailversessen und
irgendwie doch Details auslassend. Rosi zuckt die Schultern als ich meine
Zweifel laut ausspreche und schiebt es
auf Angies verständliche Ausnahmesituation. Mag sein, dass du tot bist.
Du wirst mir immer einmal wieder einfallen. Wenn ich von Lug
und Betrug höre. Wenn mir von plötzlichen Todesfällen in materiell
aussichtslosen Situationen erzählt wird und wenn ich gefriergetrocknetes
Schnittlauch im Supermarktregal sehe. Ich hätte es dir womöglich auch in
Zukunft mitgebracht. Trotz allem. Ich bin in diesen Dingen unbelehrbar. Oder
einfach naiv genug.
Mag sein, dass du tot bist. Lebendig oder tot.
liebe Brigitta, kann es sein, dass HIER noch keiner war, sich weder dafür interessierte oder gar mitgelesen hat"?
AntwortenLöschenKein Kommentar - das sagt man wohl wenn es dazu nichts zu sagen gibt, wenn man sprachslos still vor deinen zeilen sitzt, sie in sich einwirken lässt, bei manch Worten deiner Gedanken mit weint und bei anderen lächelt und bestätigend nickt.
es ist faszinierend Dir zuzuhören...
tagebuchartig ziehen deine Gedanken an mir vorbei
und ich denke, ja, ja - ja
das ist eine wunderbare Möglichkeit sich zu öffnen, den gedanken Raum zu geben, sich mal leise, mal laut zu artikulieren und so kostbar fein wenn man es kann.Ohne Scheu, nur für sich und
all jene die fast durch Zufall hier landen um deinen gedanken zu lauschen.(ganz geheim um wortlos, aber glücklich wieder zu gehen weil deine Gedanken den/oder die Leser erfüllt haben, der dir Hier - Dies erzählt wie sehr es ihn - sie berührt hat...
ich danke dir für dies Erlebnis der besonderen Art , die sich andere - warum auch - nicht trauen.
herzlichst angelface
welch ein Fundus von Texten...
AntwortenLöschenwunderschön...
endlich genug zum Lesen für mich...!!!!!!!!!!!!!
dieser Vormittag und andere, vielleicht öde ist gerettet eine größere FReude konntest du mir - kaum machen, herzlich angelface